Hormersdorf (Klasse 5)
Der Hormersdorfer Wolf
Eine grußelschmunzelige Geschichte nach M. N. Rie-U
Man sagt, es habe sich vor vielen Monden, in der Zeit vom ersten bis fünften Oktober des Jahres 2018 ereignet. Zwei Schulklassen eines Internationalen und Europäischen Gymnasiums reisten nach Hormersdorf, um ihren Exkursionsauftrag zu erfüllen. Sie sollten das Erzgebirge, insbesondere Hormersdorf und seine Umgebung geografisch einordnen, etwas über den örtlichen Bergbau lernen, im Wald nach Schätzen suchen, Steine schürfen und schleifen, jeden Abend ein eigenes Tagebuch schreiben und gestalten, um alles für die Nachwelt festzuhalten.
„Eine schöne Gegend“ dachte die kleine Ha-Luise. „Soviel Wald und keine Menschenseele.“ Ihre Wangen leuchteten vor Freude auf die Jugendherberge und die ihr bevorstehenden fünf Tage mit ihrer Klasse. Der Bus hielt und alle sprangen freudig heraus. Nach einem kleinen Mittagessen schnürten alle ihre Rucksäcke und wanderten das erste Mal gemeinsam durch den Wald in das in weiter Ferne liegende Freizeitbad. Irgendwo in den Tiefen des Waldes war ein Heulen zu hören. Ein Junge, der auf den Namen Ti-M hörte, sagte: „Ach, das ist nur ein Wolf.“ Er grinste und alle lachten los. Nur ein Lehrer bekam von alledem nichts mit, da er mit seinem Navigationsgerät beschäftigt war. Er musste ja schließlich alle wohlbehalten durch den Wald führen, den sie nie zuvor betreten hatten. Endlich lichtete sich der Wald und sie sie sahen das Bad vor sich liegen. Sie gingen hinein und tobten, sprangen, tauchten, ritten Wellen und rutschten zweieinhalb Stunden lang. Vollkommen erschöpft aber glücklich fuhren sie in die Jugendherberge zurück, aßen etwas zu Abend, schrieben ihr Tagebuch und gingen früh zu Bett. Sie mussten ja fit für den nächsten Tag sein, denn bereits sieben Uhr trafen sie sich mit ihrem Sportlehrer zum gemeinsamen Frühsport im Wald. Beinahe alle Schüler erschienen auch am nächsten Morgen…
Und so vergingen nun die Tage mit verschiedenen Aktivitäten, kleinen und großen Freuden wie im Fluge. Am letzten Abend vor der Abreise in die ferne Heimat saßen alle gemütlich beisammen. Draußen stürmte es und plötzlich – ein Blitzschlag! Man konnte nur erahnen, wie die Kinder mit weit aufgerissenen Augen dasaßen. Es herrschte vollkommene Stille und Dunkelheit. Nur ein zarter Mondschein, der durchs Fenster drang ließ die Umrisse der Personen im Raum erkennen. Die Lehrerin Frau Thi-Adler sagte: „Und nun? Was machen wir denn jetzt?“ Nichts funktionierte mehr, selbst das Telefon war stumm. Kein Freizeichen, nicht einmal Rauschen war zu hören. Da sagte die kleine Ha- Luise: „Macht nichts, ich werde Hilfe holen.“ Alle begannen aufgeregt zu murmeln und zu tuscheln. Die Lehrerin Frau Su-Eidel schüttelte wahrscheinlich nur ungläubig den Kopf. Sehen konnte man es ja nicht. Da meldete sich der KÜHNE Herr Li zu Wort: „Wir haben ja auch noch die Drohne!“ Doch im selben Augenblick ließ er seine Schultern sinken und sagte: „Orrr, die fliegt ja nicht im Dunkeln.“ „Na dann.“ sprach Ha-Luise, stand auf und verließ das Haus.
Draußen war es sehr kalt und windig. Der Himmel, durchflutet vom schwachen Licht des Mondes, sah aus wie ein vor Wut schäumendes Meer. In der Ferne war wieder dieses Heulen zu hören. Ein Schauer lief Ha-Luise über den Rücken. Sie musste an die Worte ihres Klassenkammeraden Ti-M denken. Allen Ängsten zum Trotz lief sie weiter in den Wald hinein, denn nur am anderen Ende konnte sie Hilfe finden. Das Heulen wurde immer lauter und dazu gesellte sich noch ein tiefes kehliges Knurren. Und da, plötzlich sah sie einen Schatten. Riesig, etwa fünfmeterdreiunddreißig groß. Die kleine einmetervierundachtzig bis einmeterfünfundachtzig große Ha-Luise blieb erschrocken stehen, blickte in den Schatten und sah sie. Grün-rot leuchtende Augen, die nicht ein einziges Mal blinzelten. Auf einmal gingen ihr, wie im Zeitraffer die letzten Tage durch den Kopf: Wie sie ins Bergwerk Ehrenfriedersdorf einfuhren in ihrer viel zu großen Bergmannskluft und den Helmen, wie sie untertage eiserne Monster sahen, die sich in den Berg fraßen, wie sie bei neun Grad Celsius Steine aus eiskaltem Wasser schürften und anschließend schliffen, wie sie beim Geocaching mit JPS-Geräten ausgestattet einen Wald durchschritten, um einen Schatz zu bergen, wie sie mit Naturmaterialien kleine Weihnachtsdekorationen für ihre Eltern bastelten und wieviel Spaß sie bei alledem hatten. Und dann trat er ins Mondlicht. Seine grün-roten Augen funkelten sie an. Er war wirklich riesig. Beängstigend und schön zugleich. Der Hormersdorfer Wolf. Über den sie schon soviel gehört hatte. Nun stand er ganz nah vor ihr. Fünfmeterdreiunddreißig hoch, grau-schwarzes Fell, das im Mondlicht schimmerte. Ein wahres Monster. Was sollte sie nur tun? Weglaufen? Kämpfen? Es war hoffnungslos. Da atmete der Wolf tief ein und Ha-Luise hielt die Luft an. Er erhob seine mächtige Pranke, riss das Maul weit auf, sodass sie seine weißen, scharfen Zähne sah und den fauligen Geruch seines Atems riechen konnte. Mit tiefer, kehliger Stimme, in erzgebirgischem Dialekt sagte er: „GLÜCK AUF!“